Ein Name, ein Symbol, ein weltweiter Triumph – und nun ein radikaler Bruch: Thomas Neuwirth, international gefeiert als Conchita Wurst, wagt den Schritt, der seine Fans zugleich fasziniert und verstört. Aus der bärtigen Diva, die mit „Rise Like a Phoenix“ zur Ikone der Toleranz wurde, wird plötzlich „Frau Thomas“. Kein Spiel mit Geschlechterklischees mehr, kein vertrautes Kostüm, sondern eine neue Figur, die mehr ist als ein Rebranding: ein komplettes künstlerisches Beben.
„Ruck ma z’samm“ – so heißt die erste Tour von Frau Thomas, gemeinsam mit Herr Martin, alias Martin Zerza. Sieben Auftritte, die sich bewusst von den klassischen Hallen verabschieden: Theater, intime Bühnen, sogar die legendäre Kaiserbründl-Herrensauna. Statt der großen Gesten einer Eurovision-Diva gibt es Chanson, Wienerlied, Latin, Swing, Schlager – ein Cocktail, der so scharf und widersprüchlich ist wie die neue Persona selbst.
Viele fragen sich: Warum jetzt? Warum der Bruch mit Conchita, einer Kunstfigur, die nicht nur Ruhm, sondern auch eine gesellschaftliche Sprengkraft hatte? Die Antwort liegt wohl in Neuwirths unstillbarem Drang zur Neuerfindung. Schon seit Jahren sprach er davon, dass er nicht ewig die Rolle der Diva spielen wolle. Doch dass er diese Rolle so abrupt ablegt, hat dennoch Schockpotenzial.
Die Wahrheit: Conchita Wurst war mehr als ein Künstlername – sie war ein Manifest, ein politisches Statement, ein Mythos. Frau Thomas hingegen wirkt auf den ersten Blick nüchterner, fast bodenständiger. Doch genau das ist der Trick. Denn hinter der Einfachheit des Namens verbirgt sich ein vielschichtiges Konzept: Ironie, Tiefgang, Witz. Und die klare Botschaft, dass Kunst nicht stehenbleiben darf, wenn sie lebendig bleiben will.
Kritiker werden sagen: Das ist Verrat an einer Figur, die Millionen Kraft gegeben hat. Fans werden fragen: Wird Frau Thomas je die Strahlkraft von Conchita haben? Aber gerade diese Fragen sind es, die das Projekt interessant machen. Denn nichts ist gefährlicher für einen Künstler als Routine. Und nichts mutiger, als die eigene Legende zu entmystifizieren.
Gleichzeitig bleibt Neuwirth schlau: Während Frau Thomas die Gegenwart verkörpert, hält er mit „Conchita Sings The Classics“ die Vergangenheit lebendig. Eine Doppelstrategie, die polarisiert, aber auch Absicherung ist – falls das Experiment scheitert, bleibt die Tür zur Diva offen.
Es ist ein riskanter Weg, doch einer, der zeigt: Thomas Neuwirth will kein Denkmal sein. Er will ein Künstler bleiben. Und vielleicht ist das der einzige Weg, nach einem Eurovision-Sieg nicht in Nostalgie zu verrosten. Frau Thomas ist keine Flucht – es ist ein Angriff. Auf Erwartungen, auf Gewohnheiten, auf das Bild, das wir uns von Helden machen.
Am Ende könnte genau dieser Bruch das Geheimnis sein, das Neuwirth unsterblich macht: Dass er die Kraft hat, loszulassen, bevor das Publikum es für ihn tut. Und dass er uns zwingt, über Kunst neu nachzudenken – gerade dann, wenn wir glauben, sie verstanden zu haben.