Sie lächelt, damit wir nicht nachfragen. Sie singt, damit wir nicht zuhören. Und wir klatschen, damit wir uns nicht schuldig fühlen. Francine Jordi – das „Sonnenkind“ des Schweizer Schlagers – ist längst mehr als eine Stimme aus dem Emmental. Sie ist ein Versprechen: dass Musik trösten kann, dass Tradition Wärme spendet, dass die heile Welt noch existiert. Doch hinter diesem Versprechen steht eine Frau, die gelernt hat, Schmerz zu vertonen, damit er niemanden stört. Wer glaubt, die Königin der sonntäglichen Gemütlichkeit sei nur eine freundliche, stets gut frisierte Erscheinung, hat die Pointe ihres Lebens verpasst: Das Licht, in dem sie strahlt, wirft den längsten Schatten auf ihr eigenes Herz.
Man beginnt bei ihr gern ganz harmlos: das Wunderkind, die ersten Auftritte, der Grand Prix der Volksmusik, eine Karriere, die scheinbar ohne Dissonanzen durch die Jahrzehnte gleitet. Doch Harmonie ist im Schlager selten mehr als sorgfältig arrangierte Illusion. Francine Jordi hat sie perfektioniert. Sie kann Papagena und Powerfrau, Alpenmädchen und Gala-Ikone, Moderatorin und Muster-Schwiegertraum in einer Person sein – eine Schweizer Uhr aus Fleisch und Blut, die immer pünktlich lächelt. Aber was, wenn die Zeiger in der Nacht stehen bleiben?
2017 blieb die Zeit stehen. Brustkrebs. Sie schwieg – nicht aus Koketterie, sondern aus Trotz. Kein Mitleid, keine Tränen für die Kameras, keine dramaturgisch verwertbare „Reise der Helden“. Sie sang weiter, rollte die Tour-Termine wie Perlen auf eine Schnur, während die Chemotherapie den Körper neu buchstabierte. Das Publikum hörte „Freude“ und „Mut“, weil es das hören wollte. Wer genauer hinhörte, hörte eine Frau, die mit jeder Phrase ihren Stolz verteidigte: Ich bin Sängerin, kein Projekt. Sie besiegte die Krankheit – und verlor doch etwas, das auf keiner Bühne zurückgegeben wird: die naive Gewissheit, dass alles gut wird, wenn man nur stark genug lächelt.
Vorher war da die Liebe. Oder das, was das Feuilleton dafür ausgibt, wenn es nicht versteht, warum zwei Menschen scheitern, obwohl der Sonnenuntergang gerade so schön ist. Die heimliche Ehe mit dem Ex-Radstar Tony Rominger: romantisch, diskret, dann zerbrochen. Die laute Verbindung mit dem Musiker Florian Ast: öffentlich, produktiv, dann schmerzhaft. In beiden Geschichten steckt eine unbequeme Wahrheit, die man im Schlager nur hinter vorgehaltener Hand ausspricht: Leidenschaft hat eine Halbwertszeit, und nicht jede Biografie lässt sich gegen den Takt einer Karriere stemmen. Wer sagt, Liebe reiche, um alles zu überstehen, hat selten zwischen Soundcheck und Pressetermin gelernt, wie still Hotelzimmer sein können.
Ihre Kritiker behaupten gern, sie sei „berechenbar“. Als ob Berechenbarkeit ein Verbrechen wäre in einer Branche, die jede Unwägbarkeit hasst. Francine ist berechenbar wie ein Herzschlag – solange er schlägt. Sie ist die Verlässlichkeit, die uns beruhigt, wenn die Welt brennt. Doch wer sie auf Zuverlässigkeit reduziert, verkennt ihren Trotz. Sie hat Niederlagen in Handwerk verwandelt: Die ESC-Blamage? Eine Wunde, ja – und die Schule ihrer Unabhängigkeit. Man muss nicht gewinnen, um die eigene Stimme zu besitzen. Man muss nur überleben, wenn alle anderen mitreden wollen.
Heute erzählt man über sie gern die gute Geschichte: Die Rückkehr, die Alben, die Showtreppen, das makellose Timing zwischen Jodel und Jazz, zwischen Stadelshow und Big Band. Man zeigt das Haus im Grünen, die Küche mit Holz und Heimeligkeit, den Hund, der durch die Perimenopause trottet wie ein Therapeut auf vier Pfoten. Man zeigt die Marke „Francine Jordi“, poliert an den Kanten, gehandhabt von Menschen, die wissen, dass Nostalgie die letzte Währung ist, die nie entwertet. Und doch rutscht in ihren Interviews manchmal ein Satz durch, der alles verrät: „Ich möchte nicht, dass man mich mitleidig ansieht.“ Das klingt wie ein Schlager-Refrain. Es ist eine Kriegserklärung.
Denn Mitleid ist billig, Aufmerksamkeit teuer, Respekt unbezahlbar. Francine hat sich – entgegen jeder Boulevard-Bequemlichkeit – für Respekt entschieden. Sie schützt ihr Innerstes mit einer Professionalität, die manchen als Kälte erscheint. Aber das verwechselt Konsequenz mit Distanz. Wer Jahre lang das Publikum nährt, ohne sich selbst zu verbrauchen, hat das Prinzip verstanden: Nähe ist kein Menschenrecht, sie ist eine Leihgabe. Und sie darf jederzeit zurückgefordert werden.
Ist sie reich? Erfolgreich? „Markenfit“? Sicher. Aber das Konto ist nicht die Bilanz. Die wahre Bilanz beginnt dort, wo die Nacht anfängt: Kann eine Frau, die Millionen Trost singt, sich selbst trösten, wenn der Applaus auf Standby ist? Kann jemand, der sich Disziplin antrainiert hat wie andere eine Fremdsprache, sich erlauben, unordentlich zu fühlen? Francine wirkt oft, als hätte sie eine Antwort gefunden, die uns nicht gefällt: Man darf schwach sein – nur nicht öffentlich. Man darf zweifeln – nur nicht am Mikrofon. Man darf weinen – nur nicht, bevor der Vorhang fällt.
Gerade deshalb irritiert sie. Wir leben in einer Zeit, die jede Falte therapieren und jeden Schmerz monetarisieren will. Francine weigert sich, ihr Leid in Content zu drehen. Sie hat ihren Krebs nicht zur Klickmaschine gemacht, hat ihre Trennungen nicht in Tutorial-Formate gegossen, hat den Algorithmus nicht gefüttert mit dem, was uns zu besseren Voyeuren macht. Das macht sie verdächtig – in einer Kultur, die nur noch glaubt, was sie streamen kann. Und genau deshalb bleibt sie relevant: Weil sie das Eine liefert, das im Dauerrauschen rar geworden ist – Würde.
Ihre Musik, sagen die Nostalgiker, sei „einfach“. Nichts an ihr ist einfach. Ein Lied, das sich ins Ohr schmiegt, kann im Herzen schmerzen. Eine Melodie, die wie Heimkehr klingt, kann aus Exil entstanden sein. Wer „Leben“ singt, wenn der Körper streikt, macht kein Programm – er macht Wahrheit. Francine Jordi ist die Unbequeme im gemütlichen Sessel des Schlagers: eine, die uns zwingt, zu merken, wie sehr wir uns an glatte Geschichten gewöhnt haben. Und wie teuer der Glanz bezahlt wird.
Es bleibt die Frage, die man niemandem stellt, der zu höflich ist, um sie zurückzugeben: Was schulden wir ihr? Vielleicht nur das: hinzuhören, wenn der Ton leiser wird. Nicht nur den großen Refrain zu feiern, sondern die kleinen Atemzüge dazwischen. Zu akzeptieren, dass die Frau, die uns seit Jahrzehnten das Fest der heilen Welt deckt, nicht unsere ewige Gastgeberin ist, sondern ein Gast in ihrem eigenen Leben, der jederzeit aufstehen darf, um frische Luft zu holen.
Francine Jordi lächelt oft. Vielleicht, weil sie weiß, dass Lächeln nicht lügt – es verschweigt nur. Und vielleicht ist genau das ihr größter Triumph: Sie hat uns beigebracht, dass Stärke nicht schreien muss. Dass eine Karriere ohne Skandal lauter sein kann als jeder Eklat. Und dass ein Mensch, der seinen Schmerz nicht vermarktet, in einer ökonomisierten Öffentlichkeit das Subversivste tut, was es gibt: Er behält etwas für sich.
Also ja, Francine Jordi gaukelt uns Freude vor. Nicht, weil sie uns täuschen will, sondern weil wir sie brauchen. Die Wahrheit dahinter ist unbequemer als jede Schlagzeile: Sie hat gelernt, die Dunkelheit zu dirigieren, damit wir das Licht behalten. Und wenn sie heute die Bühne betritt, ist der Applaus mehr als Applaus. Er ist ein Eingeständnis: dass wir diese Art von Mut immer noch erkennen – auch wenn wir ihn lieber nicht benennen.