Andrea Kiewel – für die einen eine Institution im deutschen Fernsehen, für andere ein Relikt aus einer Zeit, in der das lineare TV noch selbstverständlich die Wohnzimmer füllte. Doch jetzt zeigt sich die 60-Jährige von einer Seite, die viele verblüffen dürfte: Kiewel spricht offen über ihre Neigung zur Hypochondrie, ihre Ängste und ihr kompliziertes Verhältnis zur eigenen Gesundheit. „Ich höre von einer seltenen Entzündung im Auge und sehe augenblicklich schlechter“, gesteht sie im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Ein Satz, der so schonungslos ehrlich klingt, dass er gleichzeitig Mitleid, Verständnis, aber auch Stirnrunzeln auslöst.
Denn Hypochondrie ist mehr als nur „viel über Krankheiten nachdenken“. Es ist die ständige Angst, etwas übersehen zu haben, etwas Dramatisches zu übersehen, das den eigenen Körper betrifft. Und wenn eine Frau, die Woche für Woche lächelnd und energiegeladen durch den „ZDF-Fernsehgarten“ führt, plötzlich so intime Einblicke gibt, dann wirkt das wie ein doppelter Bruch: Die glänzende TV-Persönlichkeit auf der Bühne – und die verletzliche, zweifelnde Privatfrau dahinter.
Kiewel selbst erklärt ihre Haltung durch die Prägung ihrer Kindheit. „Meine Eltern gingen auch noch mit 39,5 Grad Fieber zur Arbeit, ich moderierte meine Show mit Angina, Mittelohrentzündungen, ja sogar mit Mumps.“ Krankheiten wurden nicht ernst genommen, Schwäche war kein Thema. Statt rechtzeitig medizinische Hilfe zu suchen, hieß es: Zähne zusammenbeißen. Es ist diese innere Ambivalenz, die sie bis heute begleitet – zwischen eiserner Disziplin und dem sofortigen Alarm, wenn irgendwo der Körper zwickt.
Doch damit nicht genug: Für die Jüdische Allgemeine besuchte Kiewel das Sheba Medical Center in Tel Aviv, eine der modernsten Kliniken der Welt, spezialisiert auf „Longevity“ – also die Wissenschaft des langen, gesunden Lebens. Dort unterzog sie sich nicht nur klassischen Untersuchungen, sondern auch Denkaufgaben und Tests, die in eine Zukunftstechnologie münden: Ein Computer erstellte aus den gesammelten Daten einen digitalen Avatar, der Kiewel so zeigt, wie sie in ihrer „optimalen Version“ aussehen könnte. Jünger, gesünder, stärker – ein Spiegelbild dessen, was medizinisch möglich wäre, wenn alle Stellschrauben perfekt eingestellt wären.
Das Ergebnis, wie alt ihr Körper biologisch tatsächlich ist, steht noch aus. Doch allein die Vorstellung ist spektakulär: Die „digitale Kiwi“, das Ideal einer Frau, die wir seit Jahrzehnten kennen – und die uns nun mit einer Mischung aus Schonungslosigkeit und Hightech-Futurismus vorführt, wie dünn die Grenze zwischen Realität und Wunschbild geworden ist.
Hier öffnet sich ein weites Feld für Diskussion: Ist es ein mutiger Schritt, so transparent mit den eigenen Ängsten und Schwächen umzugehen? Oder ist es kalkulierter Selbstinszenierung geschuldet, dass Kiewel ausgerechnet jetzt, im Alter von 60 Jahren, die Themen Hypochondrie und Langlebigkeit öffentlich macht?
Die Kritiker könnten sagen: Es passt perfekt ins Bild. Während sie im ZDF-Fernsehgarten eine bunte Schlagerparty nach der anderen abliefert, inszeniert sie sich abseits der Bühne als Frau, die noch lange Teil des Rampenlichts sein will. Wer über „Longevity“ spricht, spricht über Zukunft. Wer über Hypochondrie spricht, spricht über Aufmerksamkeit, über Sensibilität, über das Bedürfnis, verstanden zu werden. Und beides zusammen ergibt eine Erzählung, die Kiewel plötzlich relevanter wirken lässt, als man ihr zugetraut hätte.
Doch eines ist sicher: Die Reaktionen dürften polarisiert ausfallen. Viele Zuschauer werden sich in ihren Ängsten wiederfinden, gerade in Zeiten, in denen Gesundheit durch Pandemie, Krisen und gesellschaftliche Dauerbelastung ohnehin in aller Köpfe ist. Andere werden die Stirn runzeln: „Eine Frau, die seit Jahren das pure Entertainment verkauft, redet nun plötzlich von Angst und Hypochondrie?“ Gerade im Boulevard werden sich die Stimmen überschlagen, die Kiwi vorwerfen, sich selbst zum Thema zu machen.
Und trotzdem: Ihr Mut, diesen Schritt zu gehen, ist nicht zu unterschätzen. Denn selten äußern sich Prominente so klar zu psychischen Themen. Noch immer gilt Hypochondrie als Tabu, als „eingebildete Krankheit“. Kiewel nimmt diesem Begriff die Schärfe und zeigt: Selbst wer mitten im Leben steht, Erfolg hat und scheinbar alles erreicht, kann innere Kämpfe austragen, die unsichtbar bleiben – bis man sie offenlegt.
Spannend ist auch, wie nahtlos sie nach ihrem Klinikbesuch wieder in den Fernsehmodus schaltet. Schon am Sonntag geht es im „ZDF-Fernsehgarten“ weiter: „Schlagerparty meets Küchenschlacht“. Gastköche wie Nelson Müller stehen auf der Bühne, dazu Schlagerstars wie Semino Rossi und Patrick Lindner. Es ist die perfekte Kiwi-Mischung aus Kitsch, Unterhaltung und ein bisschen Nostalgie – ein Bild, das so gar nicht zu der verunsicherten Frau passt, die in Tel Aviv von ihren Ängsten sprach.
Doch vielleicht liegt genau hier der Reiz. Andrea Kiewel ist eine Meisterin der Gegensätze. Sie zeigt eine Fassade, die makellos wirkt, und öffnet gleichzeitig Fenster in eine Psyche, die voller Zweifel ist. Sie ist Entertainerin und Hypochonderin, Gastgeberin und Suchende. Und genau das macht sie für viele Menschen so faszinierend – und für andere so unerträglich.
Was bleibt, ist die Frage: Wird ihr digitaler Avatar, dieses perfekte Bild einer gesunden, optimierten Kiewel, am Ende stärker sein als die echte Frau, die noch immer mit Hypochondrie ringt? Oder ist es genau die unvollkommene, verletzliche Andrea, die uns viel näher ist als jede Hochglanz-Version?
Vielleicht ist es beides. Vielleicht zeigt Kiewel gerade, dass wir alle mehr sind als unser perfektes Abbild. Dass wir unsere Widersprüche nicht verstecken müssen. Und dass es manchmal gerade die Offenlegung von Schwächen ist, die uns stärker macht.
Am Ende kehrt Kiwi mit frischer Energie zurück auf die Fernsehgarten-Bühne, während das Publikum zwischen Bewunderung und Skepsis schwankt. Ist sie die Frau, die uns unterhält? Oder die Frau, die uns mahnt, auf uns selbst zu achten? Wahrscheinlich beides. Und genau das macht sie zu einer der spannendsten Figuren im deutschen Fernsehen.