Thomas Gottschalk: Der Entertainer, der uns das Lachen beibrachte – und sich selbst nicht verzieh

Was ist in den letzten fünf Jahren passiert? Falsche Frage. Die richtige lautet: Was ist in den letzten fünf Jahrzehnten mit uns passiert, seit wir Thomas Gottschalk applaudieren, ihn bewundern, belächeln, überhöhen – und doch nie wirklich begreifen? Wir reden gern über Legenden, solange sie gefällig bleiben. Gottschalk aber ist die seltene Zumutung im deutschen Fernsehen: jemand, der uns lange Zeit gab, was wir wollten – bis der Tag kam, an dem wir nicht mehr wussten, ob wir das noch verdient hatten.

Beginnen wir dort, wo alle anfangen: beim Mythos. Bamberg, 1951. Von der BR-Jugendschicht ins Samstagabend-Elysium, „Wetten, dass..?“ als nationales Massenritual, als wöchentliche Vertrauensübung zwischen Couch und Kamera. Er trug Glitzer, aber nie Maske; er spielte mit Grenzen, aber nie mit der Geste, größer zu sein als sein Publikum. Wer sich heute darüber mokiert, er sei ein Mann von gestern, verrät nur, wie klein die Gegenwart geworden ist. Gottschalk hat den Samstag gerettet, als das Wort „Streaming“ noch ein Übersetzungsfehler schien.

Doch jede Ikone hat eine Sollbruchstelle. Bei ihm trägt sie ein Datum: 4. Dezember 2010. Ein Studio erstarrt. Ein Stunt, der keiner hätte sein dürfen. Ein junger Mann, dessen Leben sich in einer Sekunde neu buchstabiert. Und ein Moderator, der zum ersten Mal in seiner Karriere auf Sendung begriff, dass Unterhaltung nie harmlos ist. Wir Zuschauer hatten eine schnelle Erklärung parat – „Tragisch!“, „Schicksal!“ – und schalteten weiter. Gottschalk nicht. Er trug fortan eine unsichtbare Last, die schwerer wog als jede Quote. Das Publikum will, dass seine Helden unverwundbar sind. Er war es nicht. Und genau deshalb war er endlich einer von uns.

Wer jetzt mit dem alten Trost kommt – „Er hat doch weitergemacht“ –, hat die Pointe verpasst. Er setzte nicht einfach fort; er veränderte den Ton. Der Mann, der Millionen das Lachen beibrachte, rechnete plötzlich auch mit der leisen Schuld des Entertainments. Der Abgang von der größten Bühne war keine Flucht, sondern ein Bekenntnis: Man kann der Gastgeber einer Nation sein und dennoch wissen, wann die Party ohne einen besser ist.

Thomas Gottschalk: Nach 48 Jahren Ehe ist er endgültig von seiner Ex Thea  geschieden

Natürlich gibt es den anderen Gottschalk: das Pop-Phänomen mit Haribo-Dauerabo, Oldtimer-Fimmel, Hollywood-Ausreißer, der erste deutsche Rapper, der ohne Pose zum Stil wurde, weil er verstand, dass Popkultur nichts anderes ist als riskierte Höflichkeit. Er spielte Kino, weil Fernsehen nicht reichte, machte Rekorde, weil Gewöhnlichkeit ihn beleidigte. Und ja, er baute Häuser: das Remagener Märchenschloss, die kalifornische Zuflucht – nur damit die Flammen 2018 ihm beibrachten, was jedes Studio irgendwann lehrt: Alles Kulisse. Was bleibt, ist, wer drin gewohnt hat.

Und dann die Liebe – die einzige Disziplin, in der dieser Mann konsequent unprofessionell blieb. Erst Thea, fast ein halbes Jahrhundert lang Komplizin, Korrektiv, Co-Regie. Dann Karina, späte Flamme, unverschämt lebendig, eine Entscheidung gegen die Nostalgie. Deutschland, gnadenlos pädagogisch, stellte die üblichen Fragen: „Zu alt? Zu jung? Zu öffentlich?“ Er antwortete mit einem Lächeln, das älter war als jede Belehrung: Liebe ist kein Casting. Sie passiert. Wer zuschauen will, soll sich benehmen.

Seine Kritiker irritiert, dass er Widersprüche nicht glättet. Er ist romantisch und rechthaberisch, großspurig und verletzlich, ums Publikum bemüht und den Leuten gegenüber misstrauisch, sobald sie glauben, ihn beschrieben zu haben. Genau darin liegt seine Modernität. Denn was ist zeitgemäß, wenn nicht die Weigerung, sich auf eine Version der eigenen Person festlegen zu lassen? Er ist nicht „früher besser“ gewesen, er war nur früher häufiger zu sehen. Den Rest erledigt unsere Sehnsucht nach Vergangenheit, die jede Gegenwart verdunkelt.

Es gibt Sätze, die man ihm gern unterschiebt – „Alles halb so wild“ –, und doch spürt man bei jedem späten Interview den Unterton: Nichts ist halb so wild, wenn man Verantwortung ernst nimmt. Das gilt für den Samstagabend ebenso wie für das eigene Herz-Kreislauf-Management. Er powert, er pausiert, er joggt mit Stöcken, zieht Grenzen, reißt andere ein. Alt werden im Licht ist eine Kunstform; jung bleiben in der Öffentlichkeit ein Verdacht. Er macht beides – das eine trotzig, das andere unverschämt heiter.

Und nun? Die Versuchung ist groß, ihn in Bronze zu gießen und vor das Funkhaus zu stellen: „Unser Thomas – der Letzte seiner Art.“ Ein Irrtum. Solange er spricht, moderiert, stichelt, schweigt, solange er seine Fehler nicht wegmoderiert und den Applaus nicht für Naturgesetz hält, bleibt er Gegenwart. Nicht als Reliquie, sondern als Risiko. Sein Vermächtnis ist nicht „Wetten, dass..?“ – sein Vermächtnis ist die unverschämte Behauptung, dass Live-Fernsehen ein moralisches Geschäft ist: echt sein, wenn es darauf ankommt; aufhören, wenn es sein muss; wiederkommen, wenn man etwas zu sagen hat.

Vielleicht ist das die Lektion, die wir ihm schulden und uns selbst nicht gönnen: Wer lange genug am Kamin der Nation gesessen hat, darf als Erster das Fenster öffnen, auch wenn es zieht. Wer uns groß gemacht hat, darf klein sein, ohne dass wir ihn kleinreden. Und wer einen Fehler auf der größten Bühne mitträgt, hat sich das Recht verdient, in Ruhe glücklich zu sein – ohne Gericht der Kommentarspalten.

Thomas Gottschalk ist kein Denkmal, das man abstaubt. Er ist eine Frage, die man sich stellt, bevor man einschaltet: Will ich unterhalten werden – oder will ich nur vergaffen? Er war nie der Clown der Republik, sondern ihr Zeremonienmeister, der wusste, dass Humor eine Pflicht und Wärme eine Arbeit ist. Er hat uns das Lachen beibracht, als wir es brauchten – und das Hinsehen, als es wehtat.

Wir hätten es einfacher haben können: eine Legende, die makellos in den Sonnenuntergang winkt. Stattdessen bekamen wir einen Menschen, der blieb, als es schwierig wurde, der ging, als es richtig war, und der zurückkam, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wenn das kein Happy End ist, dann nur, weil seine Geschichte ein anderes Genre wählt: nicht Märchen, nicht Tragödie – sondern die älteste Form von Live – die, in der etwas wirklich auf dem Spiel steht. Und wir? Wir sollten endlich lernen, dafür dankbar zu sein.