Von der bärtigen Diva zur Frau Thomas: Warum Thomas Neuwirth jetzt alles riskiert

Es gibt Karrieren, die verlaufen linear, glatt und vorhersehbar. Und es gibt Karrieren wie die von Thomas Neuwirth – ein Künstler, der schon immer aus den Konventionen ausgebrochen ist, um sich neu zu erfinden. Die Welt lernte ihn 2014 als Conchita Wurst kennen, die bärtige Diva, die mit „Rise Like a Phoenix“ den Eurovision Song Contest gewann und zu einem Symbol für Toleranz, Provokation und Freiheit wurde. Millionen liebten dieses Bild, Millionen hassten es – doch alle sprachen darüber. Heute, elf Jahre später, wirft Neuwirth dieses Bild ab und betritt die Bühne unter einem Namen, der so schlicht wie radikal klingt: Frau Thomas.

Was zunächst nach einer kleinen Spielerei klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Statement, das alles auf den Kopf stellt. Denn es ist nicht nur ein neuer Künstlername, es ist ein komplettes Rebranding, ein neues Kapitel, ein Wagnis, das größer kaum sein könnte. Frau Thomas tritt nicht allein auf, sondern zusammen mit Herrn Martin, ihrem Partner Martin Zerza. Gemeinsam haben sie ein Programm entworfen, das bewusst mit den Erwartungen spielt – ein Spiel, das die einen faszinieren, die anderen verstören wird.

Das Projekt trägt den Titel „Ruck ma z’samm“ und ist mehr als eine Konzertreihe. Es ist ein Experiment, ein Bruch mit dem Gewohnten, eine künstlerische Provokation, die an sieben außergewöhnlichen Orten in Wien und Umgebung aufgeführt wird. Theater, Clubs, aber auch die Kaiserbründl Herrensauna – Orte, die nicht nur Musik, sondern auch Atmosphäre, Tabubrüche und Nähe schaffen. Wer hier ein klassisches Popkonzert erwartet, ist fehl am Platz. Frau Thomas und Herr Martin vermischen Chanson mit Wienerlied, Latin mit Swing, Schlager mit Ironie. Ein Spiel mit Stilen, ein Spiel mit Identitäten.

Doch genau darin liegt das Risiko: Wer Conchita Wurst liebte, die glamouröse Diva, die für eine ganze Generation zum Symbol wurde, wird sich fragen, ob Frau Thomas nicht ein Verrat an dieser Ikone ist. Ist das mutige Rebranding eine künstlerische Befreiung – oder ein kalkulierter Versuch, ein Publikum zu schockieren, das man längst erobert hat? Fans sind begeistert, andere fassungslos. Manche sehen in Frau Thomas eine logische Weiterentwicklung, andere den Versuch, ein Erbe zu zerstören, das eigentlich unantastbar schien.

Instagram /  frauthomasherrmartin

Thomas Neuwirth selbst sagt, er habe schon immer gespürt, dass Conchita nicht das Ende, sondern nur eine Facette sei. Und tatsächlich: Schon in den letzten Jahren experimentierte er mit verschiedenen Formaten, von intimen Konzerten bis hin zu klassischen Interpretationen. Aber nie war der Bruch so radikal wie jetzt. Frau Thomas ist kein Kostüm, kein ironischer Gag, sondern ein ernst gemeintes neues Alter Ego. Und genau das macht es so gefährlich.

Denn wer einmal zur Ikone geworden ist, riskiert alles, wenn er diese Ikone vom Sockel stößt. Viele Künstlerinnen und Künstler haben den Versuch unternommen, sich neu zu erfinden – und sind daran gescheitert. Madonna, Lady Gaga, David Bowie – alle haben experimentiert, aber nicht jeder Neuanfang wurde akzeptiert. Thomas Neuwirth stellt sich nun in diese Tradition, wissend, dass es keine Garantie gibt. Wird Frau Thomas gefeiert – oder belächelt? Wird sie verstanden – oder missverstanden?

Schon der erste Auftritt als Frau Thomas löst Debatten aus. Die Kostüme sind weniger glamourös, die Inszenierung weniger makellos, dafür ironischer, schärfer, vielleicht ehrlicher. Der Künstler tritt nicht mehr nur als Symbol für eine Botschaft auf, sondern als Mensch, der sich in verschiedenen Rollen austobt. Für viele Fans bedeutet das eine Befreiung, für andere eine Enttäuschung. Wer Conchita Wurst erwartete, wird sie nicht mehr finden.

Doch genau das ist vielleicht der Punkt: Conchita Wurst war ein Kapitel, ein Triumph, ein Bild. Frau Thomas ist ein anderes Kapitel, das sich nicht in die Logik von Ikonen fügt, sondern neue Bilder erzeugt. Gemeinsam mit Herrn Martin entsteht ein Bühnenprogramm, das voller Humor, voller Doppeldeutigkeiten, voller Brüche steckt. Zwischen kabarettistischem Witz und musikalischem Ernst balancieren die beiden auf einer Linie, die jederzeit kippen kann – ins Geniale oder ins Absurde.

Gleichzeitig bleibt Neuwirth auch Conchita treu. Denn parallel zu Frau Thomas arbeitet er an dem Projekt „Conchita Sings The Classics“, einem Programm, in dem er bekannte Klassiker neu interpretiert. Ein doppeltes Spiel, ein doppeltes Leben: hier die radikale Neuerfindung, dort die Rückkehr zur vertrauten Ikone. Für die einen ein Zeichen von Vielseitigkeit, für die anderen ein Beweis, dass er sich nicht entscheiden kann.

Doch vielleicht ist genau diese Ambivalenz der Kern seiner Kunst. Thomas Neuwirth lebt davon, Erwartungen zu enttäuschen, Grenzen zu überschreiten, Identitäten zu zerlegen. Frau Thomas ist nicht die Leugnung von Conchita, sondern ihre Weiterentwicklung. Die bärtige Diva wurde zum Symbol für eine ganze Epoche, Frau Thomas könnte zum Symbol für den nächsten Abschnitt werden: weniger Pathos, mehr Ironie, weniger Glamour, mehr Experiment.

Und dennoch bleibt der Zweifel. Wird das Publikum diese neue Figur annehmen? Oder wird es sich nach der alten Conchita sehnen? Ist Frau Thomas ein künstlerischer Befreiungsschlag – oder das Risiko, im Chaos der eigenen Vielseitigkeit unterzugehen?

Thomas Neuwirth spielt mit dem Feuer, wie er es immer getan hat. 2014 hat er gewonnen, weil er das Unerwartete wagte. 2025 wagt er es erneut. Ob es diesmal wieder aufgeht, weiß niemand. Aber eines ist sicher: Gleichgültigkeit war noch nie Teil seines Programms.