“Schicksalsjahre” erzählt die Geschichte eines Paares, das vom Zweiten Weltkrieg und der Flucht auseinandergerissen wird. Es ist die Geschichte vieler Deutscher — auch die des Ehepaares Strecker aus Düsseldorf-Gerresheim.
Von Gohren nach Stolp mit der Kleinbahn, im Viehwaggon weiter nach Stettin, in Stettin vier Wochen Zwangsarbeit, dann wieder im Viehwaggon Richtung Lübeck. Kurz vor der Zonengrenze Kontrolle durch sowjetische Soldaten, die etliche Männer mitnehmen. Über Hamburg nach Uelzen. Mit einem Personenzug weiter nach Wipperfürth und Korschenbroich. Von dort nach Holzbüttgen, Unterbringung in einem Tanzsaal, auf dessen Boden Stroh zum Schlafen ausgelegt war.
Erinnerung nach 60 Jahren
Der 85-jährige Leopold Strecker kann nach mehr als 60 Jahren noch detailliert erzählen, wie er im August 1946 mit seinen Eltern aus einem pommerschen Dorf ausgewiesen wurde und nach Westen reiste. Seine Erinnerungen und die seiner Generation, immer wach, sie werden in diesen Tagen besonders lebendig — durch den ZDF-Zweiteiler “Schicksalsjahre”, in dem Millionen Deutsche die Geschichte eines Ehepaares verfolgen, das durch Krieg und Flucht auseinandergerissen wird.
Strecker erinnert sich an die Bewachung, die die Polen für den Zugtransport organisiert hatten. Bei früheren Transporten waren Räuberbanden in die Viehwaggons gelangt, so dass viele Ausgewiesene nackt im Westen Deutschlands ankamen. Auch Streckers wurden “gefilzt”. Ein Silberbesteck, das die Eltern hatten mitnehmen können, wechselte wie die Zigaretten in Stettin die Besitzer. Doch insgesamt waren die Zugriffe auf das, was die Ausgewiesenen hatten mitnehmen dürfen — soviel wie sie tragen konnten — nicht mehr so bösartig-gründlich wie direkt nach dem Krieg.
Auf der Flucht
Strecker, der eine Maschinenbau-Lehre absolviert hatte, war auf der Flucht vor der Roten Armee nach Gohren gekommen. Seine Frau Edith, heute 81, ist dort geboren. Neun Kinder hatten ihre Eltern. Der Vater war Kutscher im Schloss, dessen Besitzer die Felder und Wälder um Gohren gehörten. Bis die Russen kamen. Dann wurde für die im Dorf Gebliebenen Zwangsarbeit in der Landwirtschaft verordnet. Nicht nur Zwangsarbeit. Acht Frauen aus dem Dorf wurden nach einer Vergewaltigungsserie schwanger.
Einige versuchten, sich zu ertränken. Es gab dilettantische Versuche zur Abtreibung, dann einen 40-Kilometer- Fußmarsch zu einer polnischen Ärztin, die die Abtreibung ablehnte. “Der Krieg”, sagt Edith Strecker, “begann für uns am 9. Mai 1945”. Inmitten des Schreckens gab es zwischen Leopold und Edith eine Teenager-Liebe, eine “Sommerliebe”, wie sie sagt.
Liebe mit Unterbrechungen
Die wurde unterbrochen, als Streckers ausreisen mussten. Ediths Familie musste bleiben: Zwangsarbeit in der Landwirtschaft, bis die Ernte 1948 eingebracht war. Dann schoben die Polen, die von den Sowjets die Kontrolle über Pommern übernommen hatten, die Kutscher-Familie ab. Nach Leipzig.
Edith fand Arbeit auf dem Bau: Ziegelsteine schleppen, Zement anrühren. Acht Personen, der Vater, fünf Kinder und zwei Enkel, waren in zwei Zimmern untergebracht. Es herrschte eine Mäuseplage, für 100 tote Mäuse gab es ein Brot. Nach einem halben Jahr hatte Ediths Vater 20 Kilo verloren. Nach fast zwei Jahren auf dem Bau ging Edith nach Westen. Irgendwo im Harz gelangte sie über die grüne Grenze, nahm den Zug nach Kaarst. Denn dort wohnte inzwischen ihr Leo.
Die Streckers waren um die Jahreswende 1946/47 unter Polizeischutz in zwei Zimmer eines kleinen Gehöfts eingewiesen worden. Leo arbeitete in Neuss, nach der Währungsreform spezialisierte er sich als Heizungsbauer. Edith fand in Krefeld Arbeit, zunächst als Hausmädchen in einem Bäckerei-Betrieb.
1951 dann eine große Veränderung. Vater Strecker hatte durch alle Wirren der Nachkriegszeit Schmuck gerettet. Für den kaufte er in Düsseldorf ein kleines Haus mit einem Laden, Mutter Strecker verkaufte jetzt Lebensmittel. Leopold baute Heizungen, Edith wechselte den Arbeitgeber. Sie war jetzt in einem Düsseldorfer — wie es damals hieß — Altersheim tätig. Irgendwann im Jahr 1954 fuhren Leopold und Edith ins Neandertal. Dort machte er ihr einen Heiratsantrag. Viele Leute um sie waren sehr aufgeregt. Es war der Tag, an dem Deutschland zum ersten Mal Fußball-Weltmeister wurde.
Gohren haben Leopold und Edith Strecker nicht vergessen. Regelmäßig sind sie in den letzten Jahrzehnten nach Pommern gefahren, haben neue Freund- und Bekanntschaften aufgebaut. Die Erinnerung an die Nachkriegszeit hat ihr Leben nicht vergiftet.